Verstehen
Jede Veränderung und jeder ernsthafte Versuch, die Gesellschaft zu gestalten, muss mit Verstehen beginnen. Bevor wir über Lösungen nachdenken, steht stets die Analyse im Vordergrund. Diese sollte sachlich, wertfrei und kontextbezogen erfolgen. Das Rad muss dabei nicht neu erfunden werden: Die Kultur- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich seit langem mit der Frage, wie eine objektive Gesellschaftsanalyse durchgeführt werden kann, obwohl der Untersuchende oft selbst Teil des Untersuchungsgegenstandes ist.
Die Geschichtswissenschaften haben ein effektives Analyseinstrumentarium entwickelt, das sicherstellt, dass wir einen Sachverhalt sachlich, umfassend und kritisch untersuchen, dabei alle relevanten Faktoren einbeziehen – auch uns selbst und unser Verhältnis zum Untersuchungsgegenstand. Historiker wie Marc Bloch erkannten, dass unsere Informationsquellen stets gefärbt sind: durch bewusste Manipulation, durch die Hintergründe der Verfasser, durch den Verständnishorizont oder die persönliche Betroffenheit der Beobachtenden. Aber auch wir selbst gehen aus bestimmten Gründen einer spezifischen Fragestellung nach, haben auf bestimmten Wegen von einem Problem erfahren und verfügen über mehr Wissen in einem Bereich als in einem anderen. Deshalb muss jeder Analyse eine Selbstbefragung vorausgehen.
Ziel der Analyse ist nach Bloch das Erklären, nicht das Urteilen oder Rechtfertigen.
„Es gibt zwei Arten, unparteiisch zu sein: die des Gelehrten und die des Richters. Ihre gemeinsame Wurzel ist, sich aufrichtig der Wahrheit zu unterwerfen. […] Für beide, den Gelehrten wie den Richter, ist dies eine Gewissenspflicht, über die wir kein Wort verlieren brauchen. Doch kommt der Augenblick, da sich ihre Wege trennen. Der Wissenschaftler beobachtet und erklärt. Danach ist seine Aufgabe beendet. Dem Richter bleibt noch die Pflicht, ein Urteil zu fällen.“
Die Geschichtswissenschaften lehren uns auch, dass jedes Problem eine Vorgeschichte hat, die in der Analyse berücksichtigt werden muss. Nach der Vorgeschichte zu fragen bedeutet nicht, ein Ereignis zu rechtfertigen, und eine detaillierte Analyse sollte diesen Vorwurf nicht auf sich ziehen. Wenn der Versuch des Verstehens kritisiert wird, liegt dem oft ein anderes Interesse zugrunde als die lösungsorientierte Auseinandersetzung. Gesprächsverbote oder gar der Versuch, das Nachdenken über eine Frage zu reglementieren, sind daher höchst problematisch und sollten in der Politik keinen Platz haben.
Zuhören und Verstehen sollte man zunächst jedem – gerade auch denen, deren Meinung man nicht teilt. Dabei lohnt es sich, auf die eigenen Reaktionen zu achten: Wo spürt man Widerstand, Wut oder Überheblichkeit? Indem wir andere besser verstehen, lernen wir auch uns selbst besser kennen. Dies ist die fundamentale Grundlage für jede weitere gesellschaftliche Einflussnahme – auf jeder Ebene.