Es lebe die Friedensbewegung. Eine Replik.
Die Friedensbewegung ist tot – zumindest, wenn man Pascal Beucker glaubt, der in einem Artikel in der taz den Todeszeitpunkt auf die Friedensdemonstration am 3. Oktober festlegt. Beucker, der in einem kürzlich erschienenen Buch über den Pazifismus dafür plädiert, „Argumente ernsthafter auszutauschen und dabei auf unbedachte Schuldzuweisungen und Beleidigungen zu verzichten“, scheitert an seinen eigenen Ansprüchen, wenn er aufgrund von Buhrufen gegen Ralf Stegner (SPD) und der fehlenden Aufforderung zum Abzug russischer Truppen den 40.000 Menschen an der Berliner Siegessäule unterstellt, in Wahrheit eine Kapitulation der Ukraine herbeizuwünschen. Wie so oft in der Berichterstattung über den Krieg Russlands gegen die Ukraine wird auch hier der Kontext ausgeblendet – ein Kontext, den Beucker besser kennen sollte als die meisten.
Stegner kam in seiner Rede in der Tat nicht über den ersten Satz hinaus, als die ersten Buhrufe und Pfiffe ertönten. „Angriffskrieg“, hatte Stegner gesagt, und der Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung zugesprochen. Was ist daran falsch? Nichts. Russland hat die Ukraine angegriffen, und ein angegriffener Staat hat zweifellos das Recht, sich zu verteidigen. In der Debatte um die richtige Einschätzung dieses Angriffs, die seit zwei Jahren geführt wird, stehen diese Worte jedoch längst nicht mehr isoliert. Wer sie sagt, schließt sich in der Regel einer Seite des verhärteten Diskurses an, die jede Provokation des russischen Angriffskrieges durch die NATO ignoriert oder gar leugnet, und die das Recht auf Selbstverteidigung unzulässig mit der Frage verknüpft, ob durch diese Selbstverteidigung tatsächlich etwas zu gewinnen ist. Wer nicht von einem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands“ spricht, wird sogleich zum Feind der Ukraine erklärt, obwohl eine vergleichbare Wortkette in anderen militärischen Konflikten nicht als notwendig angesehen wird. Stegner weiß das natürlich und hat sich mit seinen Worten klar positioniert. Angesichts des Gegenwinds, der ihm sowohl aus den eigenen Reihen als auch von den Gegendemonstranten entgegenschlug, ist das nicht überraschend. Ihm gebührt Anerkennung dafür, dass er am 3. Oktober auf dieser Bühne gesprochen hat. Vor ihm standen jedoch Menschen, die seit über zwei Jahren für ihre Hoffnung auf eine Verhandlungslösung mit Beschimpfungen bedacht werden, die ich aus Rücksicht auf den guten Geschmack hier nicht wiedergebe. Gleichzeitig riefen Gegendemonstranten, die Friedensbewegten seien für tote ukrainische Kinder verantwortlich. Sicherlich hätte es dem Anliegen der Demonstration besser gedient, wenn auch eine Stimme wie die Stegners Akzeptanz gefunden hätte, doch auch ihre Ablehnung hat einen Hintergrund. An dieser Verhärtung der Fronten ist die taz nicht unbeteiligt, weshalb ihren Redakteuren etwas Selbstreflexion anzuraten wäre, bevor sie den Ärger eines Teils der Teilnehmer zum Anlass nehmen, die gesamte Bewegung zu verurteilen. Dass sich 40.000 Menschen eine Kapitulation der Ukraine wünschen, lässt sich daraus jedenfalls nicht ableiten.
Beucker kritisiert zudem, dass im Aufruf kein Truppenabzug gefordert wird und lobt als einzige „überlebende“ Friedensbewegung eine deutlich kleinere Gegenkundgebung, die zeitgleich unter dem Motto „Pazifismus statt Putin-Propaganda“ vor der russischen Botschaft symbolische Leichensäcke ausgelegt hatte. Der Aufruf zu einer Friedensdemonstration ist jedoch wahrlich nicht der Ort, um Verhandlungsbedingungen zu formulieren, wenn das vordringlichste Anliegen ist, die Konfliktparteien überhaupt an den Verhandlungstisch zu bringen. Wie eine Kundgebung mit Leichensäcken zu einer besseren Verständigung beitragen soll, bleibt ebenfalls unklar.
Ich habe auf dieser Großdemonstration für den Frieden Menschen getroffen, die Angst hatten, sich missverstanden fühlten und die nun, unter so vielen Mitstreitern, ein wenig Hoffnung schöpften, dass der Weg zum Frieden doch noch möglich sein könnte. Ich bin jedem Einzelnen von ihnen dankbar, dass sie im Berliner Nieselregen neben mir standen – wie menschlich und unperfekt auch immer.